Wolfgang Siano

Rede zur Eröffnung einer Ausstellung von Eva Schlutius

 

Eva Schlutius Berlin

 



... Bleiben wir noch einen Moment bei der Musik, der Bachschen Partita, die gerade verklungen ist. Ihr Klang reflektiert sich im Raum der Kirche als Ordnung von Tonfolgen, die auf zwei Polen beruht, dem vorgegebenen geschlossenen System der temperierten Stimmung einerseits, sowie dem einschwingenden, Gestalt gebenden Impuls der Instrumentalistin andrerseits. Dass wir da, wo wir Malerei als Malerei betrachten, ebenfalls von Tönen und Klängen, von Dynamik und Rhythmik sprechen, ist kein Zufall, denn das farbliche Ereignis hat, wie das musikalische, eine abstrakte Dimension, in der beide Kunstformen sich berühren.

Eva Schlutius' Bilder zeigen diese Abstraktheit, stellen sie aus, indem sie ihr Dauer verleihen, und sie benennen ihre imaginäre Gegenwart als eine in ihnen und durch sie anschaulich gewordene Realität. Titel wie Jazz oder Sphärenmusik belegen diesen Zusammenhang unmittelbar, und die Art ihrer malerischen Formulierung gibt zugleich eine Vorstellung von der widersprüchlichen Beziehung zwischen Nähe und Entfernung im Erleben dessen, was das Diesseitige des Jazz und das Jenseitige der Sphären ausmacht. Der Jazz wird als durchlässiger, in die Tiefe sich öffnender Raum gezeigt, während der Klang des Sphärischen sich als Farbballung darstellt, so als wäre er, durch ein Teleskop vergrößert, uns ganz nah vor Augen gestellt.

Wenn wir hier den Begriff der Ballung verwenden, ergibt sich wie von selbst eine weitere musikalische Assoziation, nämlich diejenige des Clusters, also der Tontraube oder der Akkordballung. Im Chaos freier Tonalität gibt er, in einem Akt physischer Selbstbehauptung, dem musikalischen Formverlauf einen Haltepunkt, der dazu beiträgt, diesen Formverlauf zu strukturieren. Diese Selbstbehauptung gibt eine Ordnung, eine Gestaltqualität dort, wo alle überlieferten Zusammenhänge aufgelöst sind, wo in der Kunst bzw. der Musik die mystische Einheit der Überlieferung des christlichen Glaubens und der Konstruktion der temporierten Harmonik zerbrochen ist. Das Bild Snorrel lässt uns ein Stück weit in eine solche Farb-Ton-Traube hineinsehen. Snorrel ist ein Begriff, den die Lachsfischer vor Alaska für eine scheinbar heillos verknotete Stelle ihrer Netze verwenden. Wir müssten also, um die kompositorische Eigenart der Bilder von Eva Schlutius genauer zu verstehen, in Relation zu der Musik von J. S. Bach auch ein Stück etwa von Pierre Boulez hören.

Denn ebenso, wie die harmonische Verbindlichkeit des Quintenzirkels hat sich auch diejenige des Farbkreises einerseits aufgelöst und hat andrerseits Weiterungen erfahren, die erst durch diese Auflösungen möglich wurden. Dieser Prozess hat dazu geführt, dass wir heute doppelt hören und sehen: Boulez mit Bach und die informellen Farbstrukturen in Eva Schlutius' Bildern vor dem Hintergrund einer in ihnen mitschwingenden, gewissermaßen Goethischen Farbharmonik. In diesen Bildern erscheinen solche Kontraste in ihrer zunehmenden zerstörerischen Beschleunigung momentweise angehalten, verdichtet zu Formassoziationen wie der Kugel oder dem Schmetterling. Die Gestaltqalitäten der Bilder von Eva Schlutius, die in ihnen stets anwesende Körperlichkeit in sich zerrissener Farbkontrapunktik gibt den Bildern den räumlichen Zusammenhalt, die in ihnen selbst begründete und durch sie begrenzte kosmische Ausdehnung.

Die Pole des ästhetischen Raums, den Eva Schlutius' Arbeiten markieren die nicht aufhebbare Spannung zwischen dem Licht der künstlichen Farbwelten und der Erinnerung einer natürlichen Farbigkeit, von der her dieser ästhetische Raum als in sich verspringende malerische Räume entfaltet wird. Der Kontrast, der sich hier aus dem Zusammenwirken der Kirche als architektonischer Anschauung einer den Kosmos übergreifenden Ordnung und einem Bild wie dem Fernsehzimmer ergibt, ist in diesem Sinne eine besondere Pointe. In ihr manifestiert sich Eva Schlutius' ganz eigene Form von Surrealität. Einerseits verweist sie zurück auf den 'intrapsychischen Realismus' ihres Lehrers Walter Stöhrer, andrerseits jedoch behauptet sie den Grundton ihrer sinnlichen Unmittelbarkeit im Zugang zur Realität.

Wolfgang Siano
Berlin 2005